(OLG Hamm, 04.08.2017, 9 U 173/16)

Der den für seine Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg benutzende Fahrradfahrer behält gegenüber aus untergeordneten Straßen einbiegenden Verkehrsteilnehmern das Vorfahrtsrecht. Der Fahrradfahrer muss sich in diesen Fällen gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB aber ein anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden entgegenhalten lassen, weil er durch sein Verhalten gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen hat. Die Verletzung des Vorfahrtsrechts und die Benutzung eines nicht für die konkrete Fahrtrichtung freigegebenen Radwegs rechtfertigt dabei eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des die Vorfahrt verletzenden Kraftfahrers.

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Das OLG hob den Mitverschuldensanteil der Klägerin auf ein Drittel an und führte aus, dass diese Anhebung aufgrund des eigenen unfallursächlichen Verschuldens der Klägerin gerechtfertigt sei. Unzweifelhaft habe der Beklagte gegen § 8 StVO verstoßen.

Die Klägerin sei als Benutzerin der übergeordneten Straße gegenüber dem Beklagten vorfahrtsberechtigt gewesen. Sie habe das ihr grundsätzlich zustehende Vorfahrtsrecht gegenüber dem Beklagten nicht dadurch verloren, dass sie den kombinierten Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung befahren habe, obwohl dieser für eine solche Nutzung in beiden Richtungen nicht freigegeben gewesen sei. Ein Radfahrer behalte auch dann sein Vorfahrtsrecht gegenüber kreuzenden und einbiegenden Fahrzeugen, wenn er verbotswidrig den linken von zwei vorhandenen Radwegen benutze, der nicht gem. § 2 Abs. 4 S. 2 StVO für die Gegenrichtung freigegeben sei. Einen Verstoß des Beklagten gegen § 1 Abs. 2 StVO wegen einer schuldhaft verzögerten Reaktion nach der Kollision mit der Klägerin sei nicht festzustellen gewesen. Die Klägerin habe ihrerseits gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen, was sie sich als anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entgegenhalten lassen müsse. Die Klägerin habe den an der Unfallstelle vorhandenen gemeinsamen Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung benutzt, ohne dass dieser für ihre Richtung freigegeben gewesen sei. Die Klägerin entlaste dabei nicht, dass sie nur wenige Meter, nachdem der Radweg für sie geendet habe, auf diesem weitergefahren sei, weil sie in die von links einmündende Straße habe abbiegen wollen. Die Klägerin habe sich ab diesem Zeitpunkt verbotswidrig auf dem Radweg befunden. Sie hätte fortan den linken Geh- und Radweg richtigerweise nur noch ihr Rad schiebend als Fußgängerin benutzen dürfen. Gegenüber dem von links in die Hauptstraße einbiegenden Verkehr sei sie als Fußgängerin wartepflichtig gewesen und habe den Sorgfaltspflichten des § 25 StVO unterlegen. Denn der Links- und Rechtsabbiegende müsse nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO nur auf Fußgänger besonders achten, die geradeaus gingen oder ihm entgegenkämen. Es könne dahin gestellt bleiben, ob hinsichtlich der Entstehung oder jedenfalls hinsichtlich des Ausmaßes der erlittenen Kopfverletzungen durch das Nichttragen eines Fahrradhelms eine objektive Mitverursachung in der Person der Klägerin begründet worden sei. Selbst wenn dies der Fall wäre, führe dies in Anwendung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls bezogen auf den Unfallzeitpunkt im Jahre 2013 nicht zu einer Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB. Für ein vollständiges Zurücktreten des klägerischen Verursachungsanteils bestehe keinen Anlass. Das ihr zustehende Vorfahrtsrecht habe für die Klägerin keine hinreichende Vertrauensgrundlage geschaffen, dass der Beklagte sie registrieren und ihr das Vorfahrtsrecht einräumen würde. Denn die Klägerin habe gewusst, dass sie den Radweg entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung benutzt habe und sich nicht verkehrsgerecht verhalten habe, was das Risiko einer Kollision mit dem einbiegenden und ihren Fahrweg kreuzenden Verkehr erhöht habe.

Referat Verkehrsrecht

08.09.2017

Uwe Karsten
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

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